Sturmsegeln spezial – Teil 18: Sturmtaktiken wählen

„Ablaufen ist das einzige, was du im Sturm machen kannst“ „Treibanker sind Geldverschwendung, das Naschschleppen von Trossen hat schon auf JOSHUA nicht funktioniert!“ „Es gibt nichts anderes als Ablaufen vor meinen Treibanker, er ist die einzige Sturmtaktik, die funktioniert“ „Wenns zu hart wird, kannst du ruhig die Yacht ihr selbst überlassen und nach unten gehen. Immerhin sind schon viel aufgegebene Yachten auch ohne Crew durch einen Sturm gekommen“ oder „keine Yacht kann gegen Sturmsee segeln“.

Immer wieder treffen wir auf Segler, die überzeugt sind, dass es ein „Überlebensrezept“ gibt, eine Sturmtaktik, die im Gegenteil zu allen anderen funktioniert. Eine Sturmtaktik, die von allen Seglern auf allen Yachttypen und in allen Seerevieren angewendet werden kann.

Doch handelt es sich in der Regel entweder nur um jene Taktik, die für diese Segler, mit ihrer speziellen Yacht, in ihrem Seerevier und bei ihren schwersten Sturm funktioniert hat. Oder die Erzählungen stammen von Segler, die zwar Sturm erlebt haben, aber keinen Orkan oder Überlebenssturm. 

Schwerwetter segeln
Der Sturmwind nimmt weiter zu, bald wird es Zeit, die weitere Taktik zu überdenken.

Denn in Wahrheit gibt es kein Generalrezept, keine ultimative Strategie zum Abwettern von Stürmen.

Aber es gibt Taktiken, die in den jeweiligen Situationen funktionieren. Und es gibt Sturmtaktiken, die bei einem Überlebenssturm schnell an ihre Grenzen kommen.

Es muss oberstes Ziel jeder Sturm-Strategie sein, dass Boot vor dem Querschlagen und Kentern zu schützen. Aber das ist nicht genug. 

Mit deiner Sturmtaktik musst du sicherstellen, dass du nicht in den gefährlichsten Teil des Sturmes gerätst und deine Sturmzeit dadurch verlängerst. Und du musst dich von der Küste oder massiven Strömungsgebieten freihalten können. 

Je nachdem, wo du dich befindest, kann ein Ziel deiner Sturmtaktik auch sein, dass du vom geplanten Kurs nicht zu weit abweichst. Dies spielt eine Rolle, wenn du dich zum Beispiel in einem Seegebiet befindest, in dem die vorherrschenden Winde den Weg zurück bei abgewichenem Kurs ganz einfach nicht mehr erlauben. Oder wenn du dich in einem Seegebiet befindest, in dem ein längerer Aufenthalt durch deine Kursabweichung möglicherweise dazu führt, dass du den nächsten anziehenden Sturm nicht ausweichen kannst. 

Auswahlkriterien einer Sturmtaktik
Die Auswahl der Sturmtaktik soll immer zu diesem Zielen führen!

Wenn sich aus einem Sturm ein Orkan entwickelt, unterschätze kleine Probleme nicht. Eine Verletzung, gebrochene Ausrüstung, Seekrankheit und Überforderung, aber auch vernachlässigte und schlecht gewartete Technik kann nun dazu führen, dass du in einen Überlebenskampf geratest, der vermeidbar gewesen wäre. 

Deshalb gehört es nicht zuletzt bei der Wahl deiner Segelstrategie nun zu deinen Prioritäten, derartige Probleme zu vermeiden. Du musst bei der Wahl deiner Taktik daher auch eure eigene Leistungsfähigkeit mit einbeziehen.

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Und ein weiterer Grundsatz gilt: Es kann immer etwas Schiefgehen. Wie sieht also dein „Plan B“ aus? Auf welche weitere Sturmtaktik kannst du zugreifen, wenn die gewählte nicht – oder nicht mehr – funktioniert?

Damit bleibt es wichtig, mehrere Sturmtaktiken zu kennen.

Je mehr Optionen zur Verfügung stehen, desto leichter kann auf die vorgegebene Situation reagiert werden.

Als Beispiel erzähle ich dir von unseren Segeltörn in Anschluss der Nordwest Passage über die herbstliche Bering See:

Mitte September erreichten wir die alaskanische Goldgräberstadt Nome im Norden der Bering See. Es bestand keine Möglichkeit, dort den Winter zu verbringen oder unsere Kielyacht aus dem Wasser zu heben. Die Passage durch das Bering Meer blieb die einzige Option, und das wussten wir von Anfang an.

Die Wetterdaten zeigten, dass zu dieser Jahreszeit rund alle drei bis fünf Tage ein ausgeprägtes Orkantief durchzieht. Dazwischen herrscht meist Starkwind mit Windstärke 8 und 9. Für die zirka 500 Seemeilen bis zum nächstmöglichen Ankerplatz wählten wir deshalb einen gemeldeten Starkwind bis 9 Beaufort von achter.

Die Ausgangssituation verlangte also das aktive Laufen vor dem Starkwind. Stoppen oder beidrehen hätte bedeutet, auf das schwere System danach, dass sich bereits mit Beaufort 11 bis 12 in den Wettervorhersagen zeigte, zu warten. 

Segeln im Bering Meer
Wir segeln im Bering Meer unter maximaler Beseelung, denn die Zeit drängt.

Um vor diesem nächsten Orkan durch das Seegebiet zu gelangen, segelten wir mit maximaler Besegelung. Wir steuerten die Yacht per Hand, da durch die flache Wassertiefe des Beringmeers die 5 bis 6 Meter hohe See kurz uns steil lief.

Dabei geriet LA BELLE EPOQUE wiederholt ins Surfen. Als wir mit über 18 Knoten über eine Welle surften, wurde es höchste Zeit, die Taktik zu ändern, denn wie oben besprochen ist unser oberstes Ziel bei der Wahl der Taktik, die Yacht vorm Querschlagen und Kentern zu schützen.

Das Ablaufen vor einem Treibanker mit mittlerer Bremskraft – in unserem Fall mit einem „Galerider“ – war die beste weitere Taktik in unserer Situation. So konnten wir die Yacht vor weiteren Surfen abhalten, ohne dabei wertvolle Fahrt zu verlieren.

Natürlich wäre unsere Yacht in dieser Sturmsee problemlos beigedreht gelegen, oder hätte vor einem Reihentreibanker oder hinter einem Fallschirmanker liegen können. Aber all diese Sturmtaktiken wären fatal gewesen. Denn durch ihre Zeitverzögerung wären wir in einen Orkan geraten. 

Ankern im Sturm
Geschafft! Wir sind rechtzeitig vor dem schweren Sturm am Ankerplatz, wo wir ihn mit viel Einsatz überstehen können.

Wissen und Ausrüstung

Ohne das Wissen über das Ablaufen mit geschwindigkeitsbegrenzendem Treibanker und ohne passender Ausrüstung an Bord hätten wir somit keine weitere Taktik zur Verfügung gehabt. Und damit hätten wir riskiert, dass LA BELLE EPOQUE irgendwann beim Surfen mit hoher Geschwindigkeit quer kommt und stolpert. 

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Sie dabei, wenn wir im nächsten Beitrag beginnen, dir die einzelnen Taktiken vorzustellen! In zwei Wochen ist es soweit!

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