Im Reich der Eissturmvögel

Claudia und Jürgen starten ihre neue Segelreise mit einer Flussfahrt in die Nordsee. Nach einem Jahr zwischen Deutschland, Dänemark und Schweden segeln sie in den Norden Norwegens. Eine Entdeckungsreise mit Mitternachtssonne, Rentieren, anspruchsvollen Segeltagen und einem Törn zur arktischen Bäreninsel. Als erste ausländische Yacht verbringen sie einen Winter an Bord in Finnmark, segeln durch Kälte und Polarnacht zwischen Hammerfest und Alta. Es folgt eine Reise durch eines der gefährlichsten Seengebiete der Welt, das dennoch zu den ältesten Segelabenteuern der Menschheit gehört: Entlang der Wikingerroute über den Nordatlantik nach Grönland.

Eine Leseprobe zum Buch

Über den Tanzboden des Teufels

Die Welt ist erfüllt mit den lauten Geräuschen des Windes. Ganz wie es ihm beliebt, pfeift er, singt er, mal schreit er. Doch still, nein, still scheint es hier nie zu sein. Die Ruhe der arktischen Einsamkeit liegt sicherlich nicht in ihrer Stille. Über unseren Köpfen zirpen und tratschen, pfeifen und schreien die vielen Vögel, die unermüdlich Segelflug-Übungen in der steifen Brise vorführen. Eissturmvögel, hübsche Papageientaucher, Eismöwen und lustige kleine schwarzweiße Vögel, deren Namen ich nicht kenne. „Welche Eigenart“, denke ich, „dass diese Insel nicht den Namen Vogelinsel trägt!“ Denn außer Vögel scheint sich hier kein Lebewesen heimisch zu fühlen, auch wenn wir erfahren haben, dass es einige Schneefüchse geben sollte. Lebewesen? Na, mal abgesehen von der Handvoll Wissenschaftler, die sich auf dem kahlen Fleckchen Land hier oben tummeln.

Unter unseren Stiefeln knirscht der Schotter. Weit und breit machen wir nur Steine, Schotter und unfruchtbaren Staub aus. Die dürftig zarten Blumen und Moose, die den Augen ein wenig Abwechslung bieten, mühen sich in den unwirtlichen Bedingungen ab und ich versuche, keine der zarten Pflanzen zu zertreten.

Doch diese Vorsicht hat auf der einsamen Bäreninsel hoch oben in der Barentssee nicht immer geherrscht und wir begutachten staunend die Überreste menschlicher Arbeit. Verfallene Holzhäuser, rostige Lokomotiven und alte Schienen; überall Eisenschrott: Siebanlagen, Stahlseiltrommeln, Überreste von Schwedenöfen. Der Boden von Tunheim ist schwarz – schwarz vor Kohle, schwarz vor Rost. Die Überreste mühseliger Arbeit, welche doch nur Steinkohle in schlechter Qualität ans Tageslicht befördert hatte. Und schon wenige Jahre nach der Öffnung des Tagebaus war damit auch schon wieder Schluss: 1925 wurden sämtliche Grubeneingänge zugeschaufelt. Die Qualität war zu schlecht und der Profit gering. Lediglich für den Walfang, für den Walrossfang und zum Robbenschlagen ließ sich die kleine Insel noch ausnützen, doch auch dies ging zurück, denn die Profitgier und der Wirtschaftsboom durch Wal- und Robbenfang sollte das reiche Leben um die arktische Insel bald vertreiben und nahezu ausrotten.

Wir erreichen die Schutzhütte Tunheim. Es tut gut, in die stabile und – zum Schutz vor Polarbären – mit doppelten Türen gesicherte Hütte einzutreten. Es tut gut, den Wind draußen zu lassen. Ach wie schön wäre es, jetzt den kleinen Holzofen zu starten, Kaffeewasser auf zu setzten und die Füße in einen der Schlafsäcke zu stecken. Aber nein, LA BELLE EPOQUE rollt in der Dünung der Bucht Austavåg und wartet auf uns. In ihrem Inneren bullert der treue Dieselofen und es wäre albern und verschwenderisch, in der Hütte das Holz aufzubrauchen und den Proviant zu verzehren, liegt doch unser eigenes Heim so nahe und erreichbar. Trotzdem, vielleicht reist man ja selbst als Segler noch zu schnell, grüble ich vor mich hin. Vielleicht sollen auch wir einmal anfangen, Wegstrecken zu Fuß zurück zu legen.

Wir begnügen uns, eine Kerze zu entzünden, im Gästebuch zu blättern und einen kurzen Eintrag zu hinterlassen. Sorgfältig schieben wir den Riegel vor die Tür und stapfen durch den Wind zu den Klippen. Weit draußen liegen drei große Fischereischiffe. Sie löschen wahrscheinlich ihre Ladung auf das Transportschiff, welches an einem von ihnen längsseits gegangen war.

Über die Hochebene im Westen kommt Nebel auf, es ist Zeit, zurück an Bord zu gehen. Und ja, auch der Magen beginnt, ungeduldig zu brummen. Wir freuen uns auf die frischen Dorschfilets, die an Bord auf uns warten. Zuerst aber will ich eine Tasse Tee und die Finger beim Ofen wärmen!

Doch halt. Schon wieder habe ich mitten in der Geschichte begonnen und noch nichts von der herrlich schnellen – aber ungemütlich ruppigen – Überfahrt, von den letzten Stops beim Gletscher am Norwegischen Festland oder von den Zwergwalen und Delfinen erzählt, welche uns im Arktischen Ozean begleitet haben.

Zurück nach Tromsø also! Nachdem wir gemeinsam mit Herbert, Jens, Jo und Do die regnerischen Tage in der Stadt faul mit Gesprächen, gemütlichen Essen und Museumsbesuchen vertrödelt haben, wünschen wir Jens zum letzten Mal Mast- und Schotbruch und eine herrliche Reise in den Süden, unsere Wege werden sich hier endgültig trennen. Es sei denn, dass auch er in Zukunft den süßen Ruf des Vagabunden-Lebens nicht mehr widerstehen kann und sich unsere Kurse auf irgendeinem nassen Fleck dieser Erde wieder kreuzen. Aber das wird dann eine andere Geschichte!

Und auch wenn das Wetter noch nicht grünes Licht für eine Überfahrt ins nördliche Inselreich gibt, wollen wir ablegen und die Weite des Nordens erleben. Nach einem Stop am Steg des Supermarktes hissen wir alle Segel, schütteln die Trägheit von unserem Gemüt und jagen durch den Sund. Wie anregend, wir sind wieder unterwegs zu neuen Ufern und meine Lebensgeister regen sich in freudiger Vorahnung.

Mit dem Regen allerdings lassen wir auch den Wind hinter uns und bald schon ist es einzig der Strömung zu verdanken, dass LA BELLE EPOQUE sich immer noch in die gewünschte Richtung bewegt. Doch die sonnige Nacht ist viel zu schön, um den Dieselmotor zu starten und während Jürgen im Heck und Herbert in der Bugkoje schlafen, lasse ich mich von den rosa leuchtenden Bergspitzen der Lyngealpen, von den Wasserfällen an beiden Uferseiten und vom blau glänzenden Sundwasser unter uns verzaubern.

Irgendwann hilft jedoch alles nichts mehr und wir tuckern mit Hilfe Mr. Perkins bis ans Ende des Jökelfjorden, wo wir unter dem Gletscher von Isfjordbotn den Anker auf steil abfallenden Grund fallen lassen.

Nach wenigen Tagen ist es schließlich soweit, neben unserer eigenen Einschätzung über die Wetterlage lässt mich auch Klaus von Intermar wissen, dass steifer Südostwind uns zügig in den Norden bringen wird. Täglich zweimal können wir uns darauf verlassen, dass die hilfsbereiten Amateurfunker uns mit den wichtigen Wetterdaten versorgen. Eine Hilfe, die gerade in diesen nördlichen Gebieten von unschätzbarem Wert ist, werden wir es ja nicht immer schaffen, grafische oder geschriebene Wetterdaten zu empfangen.

Schon hängen wir uns an die Ostseite des Tiefdruckgebietes, setzen Vollzeug und lachen, dass auch LA BELLE EPOQUE die Fahrt in den Norden genießt und uns mit 8 bis 10 Knoten auf der Logge schnell hochbringen wird. Bei den häufigen 10 Knoten helfen allerdings mit Sicherheit die steilen und hohen Wellen mit! Nur Miss Aries ist mit dem hoffnungslos übertakelten Schifferl nicht einverstanden und so steuern wir per Hand. Reffen kommt noch nicht in Frage, darüber sind wir uns einig! Doch die ruppige Fahrt fordert noch früh genug ihre Opfer und ausgerechnet ich hänge schon bald über der Reling um meinen Mageninhalt los zu werden! Zum Glück wirkt die Tablette schnell und mit etwas Vorsicht bin ich wieder einsatzbereit. In der Pantry allerdings wird’s heute nichts als Dosenchili geben, soviel ist sicher!

Wunderbares Lebensgefühl! Durch das lange Küstensegeln hätte ich schon beinahe vergessen, wie erhebend es ist, über das offene Meer zu segeln! LA BELLE EPOQUE macht sich dabei großartig und zeigt, wo ihre vielen Vorteile liegen.

Wie erwartet hüllt sich die Bäreninsel in Nebel, nicht einen Stein, eine Klippe oder einen Felsen können wir ausmachen. Na dann, Radar und elektronische Seekarten an, die beiden Männer auf Ausguck an den Bug. Langsam taste ich mich in die südliche Ankerbucht der Insel. Selbst als der Anker gut eingefahren ist und der Motor verstummt, ist kein Zeichen vom nahen Land zu erspähen. Die Wellen stehen direkt in die große Bucht, doch die Vorhersagen lauten auf Winddrehung, und dann werden wir hier in Sorhamna am besten geschützt sein.

Als an Bord Ruhe einkehrt, Jürgen und Herbert erschöpft in die Kojen fallen, will ich – wie gewöhnlich – im Steuerhaus sitzen, die Eintragungen ins Logbuch beenden, den soeben gestarteten Dieselofen beobachten und für kurze Zeit Ankerwache halten, bis ich das Gefühl habe, wirklich angekommen zu sein und das Schifferl und uns in Sicherheit zu wissen. Und während ich meine Gedanken sammle und in den Nebel starre, lichtet sich dieser plötzlich unvermutet. Nur kurz scheinen wenige Sonnenstrahlen durch, beleuchten schroffe Felsenklippen, den Wasserfall, der sich in das türkisgrüne Meer ergießt und die dunkelgrünen Moosflächen, die vom oberen Rand der schwarzen Felsen hängen. Mit offenem Mund und offenen Augen staune ich.

Ich bin angekommen, Müdigkeit überfällt mich. Bald schon legt weißer Nebel abermals sein Kleid über die kleine Insel, während ich mich endlich in der schaukelnden Koje ausstrecken kann.

Das Wetter lässt uns nicht weiter. Stabil hat sich das Tief zwischen uns und Spitzbergen genistet, nördlich von Bjørnøya erwartet uns Nordwestwind, gegen den wir nicht ankommen werden. Dazu die zeitliche Enge, die dieses Seegebiet und nicht zuletzt Herberts Rückflug vorgeben. Schweren Herzens beschließen wir, den Plan, höher in den Norden bis Spitzbergen zu segeln, aufzugeben. Insgeheim verspreche ich mir, dieses Versäumnis doch noch einmal nachzuholen. Irgendwie. Irgendwann.

Doch Jürgen träumt ohnehin schon lange Zeit vom Nordkap und der nordöstlichen Küste Norwegens, auch wenn er sich jetzt eingestehen muss, dass diese arktische Inselgruppe, dieses Svalbard, nicht nur auf mich eine magische Anziehungskraft ausübt. Trotzdem, der Beschluss steht fest und gibt uns Zeit, die Bäreninsel noch besser kennen zu lernen. Neues Ziel: Umrundung der Bäreninsel und Segelschlag zum Nordkap. Auch Klaus, Armin und Michael von Intermar erzähle ich von unserem neuen Plan und schon wird ausgiebig das Wetter studiert. Nicht einmal die norwegische Wetterstation – Bjørnøya Radio – die uns freundlich in ihrem Gebäude empfangen, liefern einen detaillierteren Seewetterbericht als meine Funkfreunde.

Nach wenigen Tagen haben wir die Insel umrundet, haben eine kleine Ahnung vom rauen Norden gewonnen, sind über die kahlen Ebenen gewandert und haben die wilden Küsten gesehen. Und auch wenn viel zu wenig Wind gemeldet wird, beschließen wir, den Bug wieder Richtung Süden zu drehen und abzusegeln. Der Hohe Norden verabschiedet sich mit besonderen Geschenken von uns: während in gewohnter Manier die Eissturmvögel mit uns ziehen und immer wieder vor dem Bug darauf warten, bis wir endlich nachkommen, tauchen plötzlich zwei Zwergwale mit lautem Auspusten neben uns auf und umkreisen uns langsam. Doch damit nicht genug! Da schau her, welch fröhliches Treiben hier plötzlich ist. Lange Stunden begleiten uns die vielen hübschen Delfine, spielen in der Bugwelle und beäugen uns an Deck neugierig. Kann das sein? Hab ich wirklich vor einiger Zeit behauptet, ich sei reif für den Süden? Reif für Sonne, Wärme und Badespaß? Nein, nein – ich quittiere meine Meinung! Nein, nein, Jürgen, vergiss Frankreich. Nichts mit Wein, Weib und Gesang. Der Norden Ruft! Der hohe Norden! Er wird mir immer am Herzen liegen und ich werde auch in Zukunft seinem Ruf nicht widerstehen können! Und auch die Barentssee, dieses unwirtliche und ruppige Gewässer, dieses türkise, unfreundliche Eismeer, dieser „Tanzboden des Teufels“ – welcher uns am Rückweg nach Nordnorwegen noch einmal die Zähne zeigt, LA BELLE EPOQUE in ihren Kreuzseen herumwirft, die Bretter vom Bugspriet donnert, Löcher in die Segel reißt und die eiskalte Gischt übers Deck jagt – wird mich nicht dazu bringen, meine Schwärmerei zu ändern. Und so verspreche ich mir, hierher zurück zu kommen, um auch noch die größte Insel von Svalbard – die arktische Insel Spitzbergen zu erleben.

Vom Nordkap an die Russische Grenze

Nicht ein Hauch an Wind ist zu spüren und die Barentssee glitzert glatt und bleiern in der Abendsonne. In der langen Dünung wird LA BELLE EPOQUE sanft gehoben und gesenkt, während sie unter Diesel langsam Richtung Nordost schnurrt. Langsam, ja, denn der starke Gegenstrom hat es leider nicht dem Wind gleichgetan, er ist nicht eingeschlafen…

Trotz Flaute haben wir uns dazu entschlossen, weiter zu fahren und nicht den nächsten Ankerplatz oder Hafen anzulaufen, wir wollen die herrlichen Sonnenstunden nicht ungenutzt verstreichen lassen. Denn was nützt es schon, ums Nordkap zu segeln, wenn es dicht verhüllt in Nebel oder Regenwolken bleibt? Da treibt es doch selbst uns einmal dazu, freiwillig unter Motor weiter zu fahren und die Fahrt auch noch zu genießen.

Das Nordkap. Gespannt warten wir darauf, dass die Klippen des berühmten Kaps in Sicht kommen. Ein wenig Misstrauen mischt sich allerdings auch in die fröhliche Erwartung. Ist es doch nicht der nördlichste Punkt Europas, so ist es dennoch weltberühmt und nahezu Pilgerstätte unzähliger Reisender per Wohnmobil, Motorrad oder Kreuzfahrtschiff. Ein Ziel vieler Tramper, Touristen und weniger Segler. Sie alle wollen diesen „beinahe nördlichsten“ Felsen Europas erleben, wollen ihn erreichen und einmal darauf stehen.

Klar, das macht uns skeptisch. Eine Felswand, die den vielen Touristen als nördlichster Punkt Europas verkauft wird, ein Ort in Nordnorwegen, wo das Wort „Souvenir“ fast wichtiger als das Wort „Fisch“ geworden ist und welcher mit Touristenstraße und Unterwassertunnel, Hurtigschiff und Fähre für alle erreichbar geworden ist, klingt ja kaum nach dem wilden und ursprünglichen Nordland, das wir hier oben erleben wollen!

Sei es wie es sei. Irgendwie gehört eine Umrundung des berühmten Kaps wohl auch zu unserer Nordreise, und außerdem, welche Meinung könnten wir uns wohl über dieses Felskap weit im Norden bilden, solange wir es nicht selbst erlebt haben?

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Und so motoren wir über die türkisgrüne Barentssee, üben uns in Geduld, während die starke Gegenströmung uns die Motorstunden verlängert und LA BELLE EPOQUE zur quälenden Gemächlichkeit zwingt. Langsam tasten wir uns an die Nordkapinsel Magerøy, die magere Insel, heran

und sehen voller Freude ein Segel am Horizont! Gespannt fischen wir nach unseren Ferngläsern – nur um enttäuscht festzustellen, dass es ein altes Ausflugsboot ist. Schade, haben wir doch seit der Bäreninsel keine Fahrtenyacht mehr getroffen. Und ja, die Ausflugsboote werden mehr, das berühmte Kap muss schon ganz nahe sein.

Im Näherkommen wird klar, weshalb Knivskjelodden – der wirkliche nördlichste Punkt Europas – nicht die angemessene Beachtung bekommen hat, lässt sich doch das imposante Kliff des touristischen Nordkaps schon im Hintergrund erblicken.

Welch eine Szene! Die untergehende Sonne taucht das schöne Kap in die herrlichste Farbenpracht: Im türkis-blau-rot spiegelndem Meer leuchtet der dunkle Felsen in warmen Rottönen, während auf seinem flachen Rücken die Foto-Blitze aufleuchten. Ach wie herrlich – und ich hätte fast überlegt, ob ich denn das vielbeworbene Kap überhaupt sehen wollte!

Fröhlich und etwas übermüdet laufen wir in eine kleine Ankerbucht bei Skarsvåg ein. Wir wollen den Anblick des schönen Nordkaps noch ein Weilchen genießen und nehmen die Dünung am Ankerplatz in Kauf. Ruhig wiegt sich LA BELLE EPOQUE vor Anker, Jürgen fischt zwei fette Dorsche aus dem Wasser, Herbert lässt die Szenerie auf sich wirken und ich laufe mit der Kamera auf Deck hin und her, um den herrlichen Sonnenaufgang zu verewigen. Ja, Sonnenaufgang – denn heute Nacht haben wir nicht nur das Nordkap umrundet, sondern auch weit im Norden den ersten Sonnenunter- und Sonnenaufgang seit Monaten erlebt. Fast traurig bin ich bei diesem Anblick, wenn auch die Sonne heute nur für knappe 40 Minuten hinterm Horizont verschwunden war und ihr Licht dennoch eine helle Nacht gezaubert hatte, so ist doch der arktische Tag schon bald vorbei und das unbeschwerte Seglerleben im ewigen Licht – ein Seglerleben frei von Uhrzeit und Tagesplanung – geht dem Ende zu!

Homebase – kaum machen wir ein zweites Mal in einem Hafen fest, überkommt uns auch schon ein beinahe „heimeliges“ Gefühl, so eigenartig das auch erscheinen mag! Doch Honningsvåg gefällt uns, gibt uns ein gutes Gefühl und nimmt uns sehr freundlich auf. Schon schleicht sich der Gedanke ein, vielleicht hier den Winter zu verbringen, vielleicht auf der „mageren Insel“ hoch im Norden das Polarlicht zu erleben. Wer weiß, vielleicht kann es ja ganz spannend werden, auch im Winter die offene Barentssee zu sehen und einen Eindruck von ihrer Kraft und Wildheit zu erleben.

Noch aber müssen wir uns nicht festlegen, noch herrscht hier arktischer Sommer und es gibt viel zu erleben. Wir haben uns von Herbert verabschiedet, der ein Schiff der Hurtigrouten zurück nach Tromsø genommen hat. Den Plan, ihn selbst mit LA BELLE EPOQUE zurück zu bringen, mussten wir aufgeben, die knappen 200 Seemeilen gegen Wind und Wetter zu kreuzen wäre für Schifferl und Crew eine unnötige Strapaze geworden. Später erfahren wir von Herbert, wie herrlich die Fahrt mit dem großen, norwegischen Postschiff war: ein grandioser Abschluss für diese Reise, denn nun konnte Herbert die wilde Natur Nordnorwegens noch einmal bestaunen, die atemberaubenden Berge aus

einer neuen Perspektive betrachten: Eine Aussicht, die wohl kein kleines Segelboot bieten kann. Denn am Schiff der Hurtigrouten gab es ein schönes Panoramacafé am Oberdeck, wo Herbert gut geschützt hinter einer Glasfront die Küste genoss.

Zu meinem Geburtstag erhalte ich ein Geschenk, das man hier im Hohen Norden wirklich zu schätzen lernt: zwei Tage Sonnenschein! Schon werden alle fleißigen Pläne Opfer des Müßigganges, anstelle Fahrtensegeln über die Barentssee gibt’s Dosenbier im Sonnenschein. Wir sitzen auf der Holzmole und lassen die Füße baumeln, beobachten das Hurtigschiff beim Anlegen und die Fischerboote beim Auslaufen. Schon wieder schleppt der Seenotkreuzer ein Fischerboot herein, die scheinen ja zurzeit vom Pech verfolgt! Das dritte Fischerboot in zwei Tagen: Motorschaden, Getriebeschaden.

Die Fischer nehmen ́s gelassen: die Versicherung wird sich schon um den Schadenersatz kümmern und Fische gibt’s ohnehin im Winter reichlich, die Quote wird sicherlich noch erfüllt! Nur schade, dass wir kein Norwegisch sprechen, so gehen die Gespräche eher holprig in einer Mischung aus Norwegisch, Englisch und gelegentlich sogar ein wenig Deutsch. Zum Glück werden hier in Norwegen Hollywood-Filme nicht synchronisiert, so spricht doch fast jeder Norweger ein bisschen Englisch. Fernsehen mit Bildungsauftrag – na, wo sonst gibt’s den so was?!

Und zu erfahren gibt es allerhand von den Fischern: sie erzählen von ihrem Fang und von den Fischfabriken, wo sie sich Eis und Salz holen. Sie erklären ihren schonenden Fang mit Leinen anstelle von Netzen, kein unnötiger Beifang wird von ihnen aus dem Meer geholt. Wir erfahren von guten Zeiten, wenn 50 Kilo Dorsch an einer Leine hängen und davon, dass sie drei bis vier Wochen an Bord leben, um genügend Fisch zu fangen. Ja, Dorsch ist wirklich noch das Gold der Norweger, denn nach einem erfolgreichen Winter wird erst einmal drei bis vier Monate im Sommer Urlaub gemacht. Klar überlegt sich so der eine oder andere auch mal, ein Segelboot zu kaufen und ein wenig in den Süden zu segeln. Ja, das Segelboot ist schon interessant, hier oben sieht man nicht mehr viele. Und während Fischer in der einen Bucht erzählten, dass so ungefähr 10 Segelyachten im Jahr vorbeikommen, so haben die Menschen in einer anderen Bucht schon seit Jahren keine Segelmasten mehr gesehen. Richtung Osten werden die stolzen „Eismeersegler“ immer weniger, LA BELLE EPOQUE leuchtet zwischen den Fischtrawlern wie ein bunter Hund hervor.

Interessiert kommen die Fischer an Bord, allerdings nur, wenn sie auch vorher von uns dazu ermutigt werden. Norweger sind wahrlich kein aufdringliches Volk! Das interessanteste an Bord? Der Dieselmotor! Oh, Perkins – ein guter Motor, ja, damit wissen die Menschen hier etwas anzufangen. Ein bisschen wenig PS – so das Resümee – und wir zeigen auf die Masten: hier schau, da gibt’s genügend Tuch, die 60 Pferdestärken reichen für uns völlig!

„Wo ist es hier gut im Winter?“ lautet immer wieder unsere Frage. Na ja, Honnigsvåg währ da schon in Ordnung, keine Fallwinde und auch nicht so viel Schnee. „Aber bleibt nicht in Skarsvåg, dort gibt’s zu viel Wind! Hat mir letztes Jahr sogar mal das Auto um ́nen halben Meter verblasen. Dort ist es ungemütlich, zu viele Fallwinde!“

„Tromsø? Na ja, die haben schon sehr viel Schnee dort unten. Ich habe da mal eine Zeit lang gelebt, aber das viele Schneeschaufeln… lästig! Muss wohl an den Bergen rundum liegen. Ihr wisst schon: Die Lyngalpen. Aber Skifahren ist dort toll. Oh, sorry, wir reden hier von Crosscountryski – Langlaufen! Alpines Skifahren ist halt so eine Sache. Ich war schon mal in Österreich. Für euch ist das hier ein Kindergarten. Außer natürlich… in den Lyngalpen, aber da müsst ihr schon selbst hoch wandern, da gibt’s kein Skigebiet mit Lift und Hütte!“

Muss ja eh nicht Tromsø sein, der Stadthafen ist uns ohnehin zu teuer dort. Alta – wie ist es dort so? „Alta? Auch nett, aber kalt! Ist schon ein bisschen weit im Land, da heizt der Golfstrom nicht so toll. Kein Problem mit Wind und Schnee, aber an die Kälte müsst ihr euch schon gewöhnen!“

„Bleibt doch einfach hier. Ich rede mit dem Nachbarn, der leiht euch vielleicht seine Boje. Aber so ruhig wie jetzt ist es hier im Winter nicht, dann läuft nämlich die Fischfabrik auf Hochtouren.“ Na dann danke, wir werden uns noch ein wenig umsehen. Aber ein größeres Dorf soll’s schon sein. Wir brauchen Wasser und Lebensmittel im Winter, Heizöl und Waschmöglichkeiten. Auf der kleinen Insel und vor der Fischfabrik ist da wohl kein so guter Platz für uns. Da werden wir uns doch auch Alta noch ansehen. Honningsvåg bleibt vorerst auf der Hitliste. Denn hier gefällt es uns und es gibt Wasser, Geschäfte und Internet, ein paar Ankerplätze rundum und einsame Hügel, von denen aus wir sicherlich einen herrlichen Blick auf das Nordlicht haben können.

Jetzt aber haben wir noch Sommer und einen letzen Teil von Norwegen vor uns. Obwohl sich bereits ein wenig das Gefühl von Herbst und Winter eingeschlichen hat. Woran das wohl liegt? Vielleicht haben wir einfach schon so viel für ein Jahr erlebt, so viele Eindrücke gesammelt. Volle Batterien, sozusagen. Oder sind die ersten Sonnenuntergänge schuld? Täglich werden die Stunden ohne Sonne länger, ja, es gibt schon so etwas Ähnliches wie Dämmerung, wenn’s auch noch nicht finster wird. Aber selbst die Leuchttürme arbeiten wieder und begrüßen uns an der Küste mit ihrem Licht!

Oder ist’s vielleicht einfach nur die Kälte, die uns an den Herbst denken lässt? 10 bis 15 Grad Celsius Tageshöchsttemperaturen, oft mit wolkenverhangenem Himmel und tristen Nebelschwaden. Kein Wunder, wenn der Ruf der Krähen an der Küste das Gefühl von Herbst vermittelt…

Auf jeden Fall allerdings kann’s nicht an der Farbe der Blätter liegen, oder gar an fallendem Laub, denn so etwas gibt es hier oben nicht! Der einzige „Baum“ weit und breit trägt schon lange kein Laub mehr. Er steht in Mehamn und glänzt in seiner roten Farbe: die Leute vom „Red Tree“-Hotel haben einen großen, toten Ast rot angemalt und mit Plastikschmetterlingen verziert an ihre Hausmauer gelehnt!

Spätsommer oder nicht – wir freuen uns auf die Etappe vor uns. Denn wir wollen den äußersten Norden Norwegens kennen lernen – bis zur Grenze zu Russland segeln und in ein Seegebiet vordringen, in das nur selten Yachten ihren Weg finden. Die wenigen Segelyachten, die weiter nördlicher als zu den Lofoten segeln, drehen meist am Nordkap Richtung Süden, denn der Weg in heimische Gewässer ist weit und die Saison kurz.

Doch wir werden im Hohen Norden überwintern. Herausfinden, warum die Norweger ihren Winter lieben und was es heißt, in der Polarnacht zu leben. Wir werden heuer nicht mehr zurück in den Süden segeln und so haben wir die großartige Möglichkeit, ruhig und ohne Stress die nördliche Küste dieses wunderbaren Landes zu erleben. Wir haben Zeit, um uns noch ein bisschen in den verwinkelten Fjorden dieses Nordlandes herum zu treiben und auf gutes Wetter und sonnige Tage zu warten. Denn jedes Vorhaben hier oben, jede Fortbewegung auf dem „Tanzboden des Teufels“ steht und fällt mit dem Wetter.

10. August

Wettervorhersage: Nordwestwind 3 Beaufort, norddrehend, später variabel, abnehmend, bewölkt, teilweise Regen.

Oje, das wird aber eine langsame Reise, doch wir wollen weiter und so legen wir gegen Mittag bei wenig Wind Kurs Ost ab. Nach wie vor: türkis-grünes Wasser, schroffe, kahle Landschaft. Alles Tuch nach oben: Großsegel, Besan, Genua, trotzdem werden die geloggten Knoten immer weniger. Wir segeln an einem schwimmenden Rentierkadaver vorbei; armes Tier, muss wohl abgestürzt sein…

Später müssen wir den Diesel starten und so fahren wir um Mitternacht in den Hafen von Mehamn, lassen den Anker ausrauschen und schalten zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit das Ankerlicht an. Ja, es ist bereits Dumper. Tagesetmal: 55 Seemeilen

11. August

Wettervorhersage: Hochdruckeinfluss, schwache Westwinde, größtenteils sonnig, einzelne Wolkenfelder.

Wir bleiben in Mehamn, spazieren zum Leuchtturm und durchs Fischerdorf. Zählen mindestens vier Fischfabriken hier. Hinter einer hängen unzählige Dorschköpfe zum Trocknen. Was die wohl daraus machen werden, Fischmehl?

Am Leuchtturm blicken wir über die Weite der Barentssee. Eissturmvögel ziehen ihre Kreise über dem Wasser, spielen in der Luft. Ein voll beladener Fischkutter sucht sich behäbig seinen Weg in die Bucht, rollt bedenklich im Seegang und schaufelt ordentlich Wasser. Die Küste ist kahl, keine Bäume, keine Büsche, nur Gestrüpp und Moos breitet sich hinter den kahlen Felsen entlang des Ufers aus. Die Felsen der Küste selbst sind eigenwillig geformt. Sie liegen in großen Platten, lassen sich leicht voneinander absprengen und richten schroffe Kanten in den Himmel.

Im Hafen werden wir von Seeschwalben besucht. Ich freue mich über die vielen kleinen Vögel, die sich, aufregend piepsend, auf unserer Reling nieder lassen und die Nacht an Bord verbringen. Morgen allerdings werde ich mich nicht mehr über die Seeschwalben freuen, denn morgen werden wir erst einmal das Deck von Vogeldreck befreien müssen, bevor wir ablegen…

12. August

Wettervorhersage: Hochdruckeinfluss. Westwind, 3 Beaufort, langsam süddrehend, am Nachmittag und Abend Südwestwind mit 5 Beaufort, 1,5m Seegang mit Dünung aus Nordwest, Sonnenaufgang 02:29 Lokalzeit, Sonnenuntergang: 21:45

Wow, das ging aber schnell: vor eineinhalb Wochen leuchtete uns noch die Mitternachtssonne und jetzt gibt’s schon einen Sonnenuntergang um halb zehn! Gemütlicher Vormittag, an den Tanksteg um 14:00 Uhr bei Hochwasser. Zwar ist es hier tief genug, aber man kommt so viel einfacher an Land, wenn der Steg bei zweieinhalb Meter Tidenhub nicht ganz so hoch ist. Und Wind ist ja ohnehin erst für den späten Nachmittag gemeldet. Dann geht’s aber endlich weiter.

Vorbei am nördlichsten Festlandleuchtturm der Welt: Slettner Fyr. Segeln bei leichtem Westwind, Kurs immer noch Ost. Wo bleiben die gemeldeten 5 Beaufort Windstärke?! 18:30 Bordzeit: es ist soweit: Zeit für die Intermar Abendnetz Funkrunde – mal sehen, warum wir in so wenig Wind dümpeln.

Aha, da hat sich also was geändert: schwache 5 Knoten Wind für den restlichen Abend und die Nacht, Morgen Flaute. Schon sitzen wir über der Seekarte und suchen einen Ankerplatz. Ein leichtes Unterfangen im Fjordland Norwegen; Auswahl: Ankern im Gunnarfjorden. Tagesetmal: nur 17 Seemeilen…

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Ein herrlicher Platz, wilde Natur, nur ein unbewohntes Ferienhaus; Rentiere, Blaubeeren; warme Felsen und glitzerndes Meer, Sonnenschein und Delfine in der Bucht. Abendessen: Fischplatte mit Dorsch und Schellfisch, dazu Erdäpfel-Sauerampfer Salat mit wildem Schnittlauch, Dessert: Heidelbeerjoghurt. Wir bleiben noch einen Tag hier.

14. August

Wettervorhersage: Hochdruckzone, stabil bleibend für die kommenden 72 Stunden, bringt Sonnenschein und warmen Südwind mit 10 Knoten, später zunehmend auf 15 Knoten, halber Meter Seegang aus Nordost, 14 bis 20 Grad Celsius Sonnenaufgang 02:42 Uhr, Sonnenuntergang: 21:41 Uhr Lokalzeit

Wir laufen Ostkurs hart am Wind unter Genua und Großsegel… aber leider nur kurz! Am Eingang zum Tanafjord dreht der Wind plötzlich auf Ost. Shit – genau da wollen wir ja hin. Wir drehen ab Richtung Nordost. Starke Böen – müssen die Genua reffen. Kreuzen auf und wechseln auf die Fock. Ha, endlich: der Wind dreht nach Süd, wir laufen wieder Kurs. Sobald ein Fjord neben uns ins Land schneidet, faucht uns auch der Wind ordentlich ins Gesicht. Die Barentssee schüttelt uns weich: 2 bis 3 Meter See aus Nordost, der Wind arbeitet dagegen an und peitscht die See auf. Doch LA BELLE EPOQUE bleibt unbeeindruckt: gelassen arbeitet sie sich Richtung Kongsfjord vor. Und wir? Ja, wir genießen einen sportlichen Segeltag, zupfen an den Tüchern herum und arbeiten als wären wir eine Regattacrew. Die Sonne und die schöne Barentssee stacheln unsere Lebensgeister an und bei Sonnenuntergang fällt der Anker in den weichen Sand bei Veines. Tagesetmal: 52 Seemeilen

15. August

Wettervorhersage: stabiles Hoch, bleibt für die kommenden 72 Stunden erhalten, steigender Luftdruck auf 1026 Hektopascal, Südwestwind mit 5 Beaufort, später etwas abnehmend, Sonnenschein bei steigenden Temperaturen, Seegang: 1 Meter mit Dünung aus Süd-Südost.

Auf geht’s. Am Abend soll der Wind auf Südost drehen und da wollen wir schließlich hin. Herrlich: Sonne und 22°C; wieder ein sportlicher Segeltag: hart am Wind mit starken Böen bei den Fjordeinschnitten: Segel rauf, Segel runter; Groß dicht, Groß ein bisschen fieren. Zum Glück hat sich bei uns an Bord nie der altbekannte „Manöverschluck“ eingebürgert: wir wären schon stockbesoffen und außerdem Pleite bei den Alkoholpreisen in Norwegen… Wir rauschen über die See! 8 bis 9 Knoten Fahrt über Grund. Nach 56 Seemeilen Spaß machen wir in Vardø fest.

16. August

Wettervorhersage: stabiles Hoch für die kommenden 72 Stunden.

Das Wetter bleibt uns erhalten. Wir laufen durchs Fischerdorf. Vardø hat zwei Gesichter: zerlumpt und verfallen zeigt sich die Nordseite des Hafens. Abgebrannte Häuser, überall Schrott, eingeschlagene Fenster. Wir liegen an der Südseite: schöne Wohnhäuser, ein liebevoll gepflegtes Museum; hübsches Tourismus Infohäuschen am Hurtiganleger und das nördlichste Festungsfort der Welt. Doch was uns beeindruckt: der Kultur-Wanderpfad mit einem großen orthodoxen Kreuz im Gedenken an die vielen namenlosen Gräber an der Ostküste der Insel, hier wurden verstorbene, russische Gastarbeiter vergangener Tage begraben, da sie keinen Platz in geweihter Erde am Dorffriedhof erhielten.

Wir lassen uns beeindrucken vom Kulturwanderweg mit einem Kunstwerk zum Gedenken an die über 90 dokumentierten Hexenverbrennungen zu Zeiten der Inquisition. Staunend betrachten wir das große Glasgebäude mit dem brennenden Stuhl als einziges Möbelstück. Im Kreis darum sind große Beobachtungsspiegel aufgebaut. Sehr gelungen. Ja, so muss es sich angefühlt haben, wenn erst einmal die Bevölkerung und die Kirche auf einem aufmerksam geworden war. Neben der Glaskonstruktion: ein riesiges „Luftschiff“ in seiner hölzernen Aufhängung. Ob man da wohl auch hineingehen darf? Wir versuchen es und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. In dem „Schiff“ ist es dunkel und schwarz, nur die vielen schwachen Glühbirnen hängen an beiden Seiten von der Wand. Jede einzelne Glühbirne beleuchtet einen Namen und eine Geschichte. 97 Glühbirnen sind insgesamt im Luftschiff verteilt! Wir lesen einige Geschichten durch:

MARRITE OLUFSDATTER

Angeklagt und Schuldig gesprochen: mit Hexenkraft einen Sturm am Weihnachtsabend 1617 hervorgerufen zu haben, in dem 10 Fischerboote mit insgesamt 40 Mann Besatzung verloren gingen. Verurteilt und am Scheiterhaufen hingerichtet.

SMELD ANNE

Angeklagt: von Baarne, des Glöckners Frau, die bei Smeld Anne deren schwarze Katze gestreichelt hatte und dabei ein schmerzhaftes und unerklärliches Gefühl bekam: ein Gefühl, fliegen zu können. Verurteilt und schuldig gesprochen, in einer Großveranstaltung gemeinsam mit 13 weiteren Frauen (darunter auch Baarne) am Scheiterhaufen hingerichtet.

INGEBORG, Frau von PEDER KROG

Angeklagt auf allgemeine Ausübung von Hexerei, jedoch auf unschuldig plädierend. Daraufhin dem Wassertest unterzogen (mit Steinen behangen ins Wasser geworfen, nur echte Hexen würden nicht untergehen) und schwamm. In weiterer Folge der Folter unterzogen, die sie nicht überlebte.

Auch die Geschichte über männliche Hexen gibt es hier, wobei es bei vielen durchaus auch eine Frage des Besitzes war. So zum Beispiel die Geschichte vom Schneider CHRISTIAN, der reich war und dessen Verbrennung der Festung Vardøhus sein gesamtes Vermögen einbrachte.

Unter den Unglücklichen auch viele Sami.

17. August

Wettervorhersage: stabiles Hoch, langsam ostziehend, jedoch weitere 72 Stunden erhalten, Südost bis Ostwind 4 Beaufort, 1025 Hektopascal fallend auf 1022, später wieder steigend, Sonne und warme Temperaturen, 1m Seegang mit Dünung aus Ost, Sonnenaufgang 03:00 Uhr, Sonnenuntergang 20:58 Uhr

Wieder ein herrlicher Tag. Der Hafenmeister in Vardø kassiert keine Liegegebühren, Begründung: weil die Sonne so schön scheint! Wir lassen die Insel hinter uns, ein Fischer bläst sein Horn und winkt uns fröhlich zu – überall gute Laune. Drehen den Bug Richtung Süd und rauschen unter Genua und Großsegel hoch am Wind. Im Süden liegt Russland! Bald dreht der Wind etwas nach Osten und wir können die Segel ein wenig aufmachen. Schon steht auch der Besan und LA BELLE

EPOQUE zieht mit 8 Knoten Fahrt über das Meer, während der Wind uns mit Böen bis 6 Beaufort vorwärts treibt.

Richtung Festland nimmt der Wind zu, überall zieren weiße Schaumkronen die Barentssee, wir bergen den Besan und setzen die Fock. Es ist aber nicht mehr weit. So, jetzt nur aufpassen, nicht über die Grenze segeln, wir werden hier sicherlich von den Radarstationen beobachtet.

18:00 Uhr Abend: nach 48 Seemeilen fällt der Anker vor der russischen Grenze. Yupie! Wir haben es geschafft! Wir haben die gesamte norwegische Küste abgesegelt, vom Oslofjord bis nach Grense Jakobslev – der Grenze zu Russland. Weiter geht’s nicht mehr! Auch der Amateurfunkrunde juble ich etwas vor und Klaus gratuliert. Wir sitzen im Cockpit und lassen die Eindrücke auf uns wirken. Es ist schön hier, selbst die Radarstationen der Grenzüberwachung verschandeln nicht die Gegend, einige Urlauber tummeln sich am weißen Sandstrand und die steinerne Kong Oscar Kirche liegt bereits im Schatten der Felswand.

Früher gab es hier immer wieder Streit zwischen Fischern über den Verlauf der Grenze und den damit verbundenen Fischrechten. So bat der Amtmann von Finnmark um ein Kanonenboot, das vor der Flussmündung kreuzen sollte. Doch anstelle des Kanonenbootes schickte der findige Marineoffizier einen Bautrupp, eine Kirche entstand und sollte für alle Zeiten als kultureller Grenzschutz am äußeren Rand des norwegischen Reiches für Friede sorgen. Ein guter Einfall und obendrein ein schönes Bauwerk, dass hier entstand.

Wir wollen den anhaltenden Südostwind nützen, wer weiß, wie lange wir noch im Hochdruckeinfluss schwelgen. Am folgenden Tag treten wir die Rückreise an, segeln 132 Seemeilen bei wechselnden Winden zurück in den Tanafjord, wo wir einige Tage verbringen. Wir wollen ja nicht womöglich zu schnell aus dem super Wetter segeln… Immerhin befinden wir uns bereits an der Westflanke der Hochdruckzone.

Doch wir haben keinen Grund uns zu Sorgen, die arktische Hitzewelle hält noch viele Tage an und wir haben Zeit über Zeit, die vielen Ankerplätze in den Fjorden auszukosten, bevor wir uns langsam zum Nordkap und wieder zurück in die bereits befahrenen Gewässer aufmachen.

Das Wetter passt und das Küstenhandbuch, der „Norwegian Cruising Guide“ hat uns neugierig gemacht. Denn die Autoren des Küstenhandbuchs entschuldigen sich dafür, dass sie keine Unterlagen zu den nördlichen Fjorden von Finnmark haben. Zu wenige Segelyachten kommen in dieses Gebiet, kaum eine Yacht hat Zeit, einen Abstecher in den Tanafjord, in den Laksefjord oder gar in den großen Porsangerfjord zu unternehmen. Fjorde, die quasi fast Neuland für ausländische Segelyachten sind, die beinahe „unentdeckt“ von Yachtleuten bleiben. Schnell ist der Beschluss gefasst: LA BELLE EPOQUE geht auf Entdeckungsfahrt!

Nachdem wir uns einen kleinen Vorgeschmack im Tanafjord geholt haben, wissen wir, dass wir auch den größten der Nordnorwegischen Fjorde entdecken wollen: den Porsangerfjord am Fuße der Nordkapinsel Magarøy.

Zugegeben, „entdecken“ mag ein bisserl hochtrabend sein, doch ist der Gedanke, möglicherweise das erste Segelboot seit Jahren oder Jahrzehnten in diesem Fjord zu sein, nicht einmal so weit hergeholt. Der Fjord hat noch ein paar weitere Eigenschaften, die unser Interesse geweckt haben: So ist der tief in Finnmark schneidende Meeresarm in südwestlicher Richtung ausgerichtet, was bei der derzeitigen Wetterlage mit überwiegend Nordwestwind durchaus Chancen der Besegelung (mit Betonung auf „Segel“) des Fjords heißen kann. Entlang der Ufer zeigt die Seekarte außerdem unzählige Buchten, in denen wir wahrscheinlich gut geschützte Ankerplätze für alle Wetterlagen finden können. Und das südliche Ende des Fjordes ist gesäumt mit kleinen Inseln – Holmen – wie Norweger ihre winzigen Felsinselchen nennen: eine wahre Spielwiese für Fjordentdecker!

Wir laufen aus, vorbei am Hurtigschiff und den vielen Fischerbooten, und in die Mündung des Porsangerfjords. Doch sollte sich unser Anker schon viel früher als gedacht im Sand eingraben…

Die Sonne strahlt, wir sitzen im Cockpit und steuern das Boot am Außensteuer, was für ein Sommertag! Zur Feier des Tages kramt Jürgen die letzen zwei Dosen Arctic-Bier aus der Bilge. Aber halt, was ist das dort für ein komisches Haus auf der Klippe? Das müssen wir uns näher ansehen und schon steuere ich vorsichtig dichter unter Land: kein Haus, ein gestrandeter Fischkutter! Jürgen macht das Dingi klar und als ich es nicht wage, unser Segelboot weiter Richtung Küste zu steuern, stößt er sich mit dem kleinen grünen Beiboot ab, um das Wrack zu inspizieren, während ich mit LA BELLE kleine Kreise ziehe. Kaum ist er zurück an Bord, beschließen wir, die nächstgelegene Ankerbucht zu nehmen und einen Landausflug zum Bootswrack zu unternehmen.

Eine gute Wahl, ist doch die Aussicht auf den Hügelkuppen über den Fjord unbeschreiblich schön, während vier Seeadler über uns aufsteigen und die Rentiere scheu vor uns davon trotten. Schade um das schöne Boot, man sieht dem Holzrumpf an, dass er gut gepflegt worden war und sicher noch viele Jahre durch die Barentssee gepflügt wäre, wenn er nicht hier auf den Felsen sein letztes Grab gefunden hätte!

Vor frischem Nordostwind geht’s am folgenden Tag weiter. Ja, wir können im Fjord segeln. Zwar fauchen gelegentlich stärkere Böen über uns hinweg, doch vor dem Wind ist so etwas ja eher spaßig. Das schöne Wetter hat sich allerdings verzogen und wieder einmal sind wir froh, ein gemütliches Steuerhäuschen zu haben.

Der Anker fällt zwischen den Schäreninseln von Skogholmen. Die nächsten Tage hält uns das Wetter hier fest, Regenschauer ziehen über uns hinweg und vertreiben jede Lust, den Dieselofen ab zu drehen und weiter zu segeln. Macht nix, schon seit einiger Zeit hab ich mir vorgenommen, mein Funkerlatein ein wenig aufzufrischen, mich mit den Möglichkeiten von Wetterfax besser vertraut zu machen und ein paar USB-Sticks mit Musikdateien für das Bordradio zu füllen. Jürgen verzieht sich wieder einmal in seine Bordwerkstätte, um einige Kleinigkeiten zu verbessern oder zu warten und nimmt sich außerdem vor, die Segelbücher über unsere möglichen Segelreviere fürs kommende Jahr zu studieren. Zwischendurch besuchen uns zwei Fischerboote. LA BELLE EPOQUEs hohe Masten sind ja kaum zu übersehen und ziehen immer wieder mal neugierige Blicke auf sich.

Endlich geht es weiter. Wir bewundern die schroffe Landschaft, die uns umgibt. Viele Berghänge hier sind kahl und das nackte Gestein leuchtet im Tageslicht. Dunkelgrün zieht sich die Vegetation von den Ufern auf die Hänge, das Moos schimmert in grünen, gelben und roten Tönen und anstelle von Wäldern zieht sich mannshohes Birkengestrüpp über den einen oder anderen Hang.

Als wir unsere nächste Ankerbucht erreichen, staunen wir. Auf einer kleinen Wiese zwischen den Felsen beobachtet uns eine Herde Rentiere skeptisch beim Einlaufen und die kleine, vorgelagerte Insel voll Blumen verleiht dem Land eine fast unwirkliche Sanftheit. Ein richtiger kleiner Wald ziert den westlichen Uferhang und entzückt schnüffeln wir den Duft der Bäume. In der nördlichen Bucht leuchtet eine Hütte im dunklen Rot, dennoch fühlen wir uns, als hätten wir dieses kleine, nördliche Paradies neu entdeckt.

Und im gewissen Sinn stimmt das ja auch, haben wir diese Bucht mit all ihrer Schönheit doch für uns entdeckt. Und nicht nur diese Bucht, diesen Fjord oder diesen Teil der Erde haben wir für uns entdeckt. Immer deutlicher spüren wir, dass uns der Norden doch mehr gefesselt hat, als wir es für möglich gehalten haben. Ja, wir haben den Norden für uns entdeckt. Ein Gefühl, dass unser „kurzer Abstecher“ in den Norden vielleicht doch nicht so kurz sein wird, eine Ahnung, dass wir uns mit dem Nordfieber haben anstecken lassen. Immer öfter betrachten wir die Segelreviere im Nordatlantik. Ferne, kalte Ziele, die in ihrer Einsamkeit und mit ihren aufregenden Seegebieten locken. Die Færoer Inseln, Island, Jan Mayen, oder noch weiter: Grönland und Neufundland.

Doch halt. Ein Schritt nach dem anderen. Jetzt sind wir vorerst einmal hier in Finnmark und freuen uns auf den Winter. Denn der finstere Tag, das Polarlicht und die Herausforderung, im Winter das Nordmeer zu besegeln sind die kommenden Abenteuer, die wir suchen. Was danach kommen mag, wird uns schon noch früh genug einfallen!

Im Reich der Eissturmvögel

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