Gescheiterte Expeditionen
Eine der größten Abenteuergeschichten unserer Vergangenheit ist wohl der europäische Versuch, einen schiffbaren Weg durch die Arktis in den Pazifik zu finden. Die Suche nach der Nordwest-Passage.
Nach der ersten Reise in die Arktis durch Martin Frobisher mit seiner 30 Tonnen Bark GABRIEL 1576 dauerte es allerdings Jahrhunderte bis der Weg durch die Arktis gefunden und endlich auch durch Roald Amundsen und der kleinen Slup GJØA bestritten wurde. Jahrhunderte voll unzähliger Expeditionen und Fehltritten, Jahrhunderte von verlorenen Schiffen und erfrorenen Seeleuten, deren Höhepunkt 1845-48 mit der unglückliche Reise der beiden britischen Segelschiffe EREBUS und TERROR unter dem Kommando von Sir John Franklin und der für immer im Eis verschwundenen gesamten Crew von 129 Mann seinen Lauf nahm.
Ironisch genug, dass eben genau diese gescheiterte britische Expedition durch Franklin die Nordwest Passage für die Öffentlichkeit in Europa und Amerika interessanter den je machte.
Die Geschichten von Eis und Kälte, von Isolation und dem harten Überlebenskampf, von Schiffen, die durch Packeis zerdrückt und Menschen, durch Hunger und Kälte dahingerafft wurden, fütterte die Medien und inspirierte das Volk. Immer mehr Entdecker zu Wasser und zu Land machten sich auf, um das Geheimnis um die verlorene Expedition zu lüften und um ihren eigenen Namen in das Buch der Abenteurer schreiben zu können und neues Land zu entdecken und benennen.
Doch blieb der erhoffte Erfolg noch lange aus und nur wenige Überreste der Franklin-Expedition wurden nach Hause gebracht. Grausame Geschichten von Tod und Geistesgestörtheit, von Raffsucht und Kannibalismus wurden aus der Arktis nach Europa gebracht. Bis heute bleibt das wahre Drama der Franklin-Expedition im Dunklen, wenn sich auch ganz neue Tatsachen zu den wenigen bisher bekannten Fakten zeigen (Messungen an gefundenen menschlichen Überresten deuten auf eine Bleivergiftung durch schlechte Lebensmittelkonserven).
Nun musste man erkennen, dass die Route durch die Arktis wohl nie die erhoffte Abkürzung in den Pazifik werden würde, weder, um den Reichtum des Orients nach Europa zu bringen, noch, um als Entdecker einfach zu Ruhm zu gelangen. Die Arktis blieb weiterhin das Gewässer der Walfänger und Robbenschlächter, die Reichtum in Tran, Baleen und Fell suchten, jedoch nicht Interesse daran hatten, eine schiffbare Passage durch das Eis zu finden.
Die erste erfolgreiche Fahrt durch die Nordwest Passage
Das Dach der Welt blieb weiterhin „Terra Incognita“ – das unbekannte Land, oder „ultima Tule“, der ultimative Norden. Vier Jahrhunderte dauerte die Suche nach der Nordroute, bis sich endlich die 72 Fuß lange, alte norwegische Fischerei-Smack GJØA mit Amundsen und seiner kleinen Crew an Seeleuten und Entdecker aus dem Hafen von Tromsø stahl und zu einer Reise in den Norden von Kanada aufbrach. Eine Reise, die drei Jahre dauern sollte und Schiff und Crew bis an ihre Grenzen bringen würde.
Doch konnte Amundsen seinen Erfolg 1906 feiern: die erste erfolgreiche Reise durch die Nordwest-Passage war geschafft.
Dennoch dauerte es weitere 36 Jahre, bis das nächste Schiff diese Reise antreten sollte. Die kanadische ST. ROCH unter dem Kommando Henry Larsens, ein nach dem Vorbild von Amundsens MAUD gebauter Schoner, sollte der Welt zeigen, dass die Nordwest Passage kanadisches Land war. Und so schaffe es das Schiff und ihre Crew zum ersten Mal, diese Passage in beide Richtungen zu befahren: nach der Durchquerung der Nordwest Passage von British Kolumbien nach Nova Scotia segelte die ST. ROCH 1944 noch einmal durch die Nordwest Passage, dieses mal sogar durch eine weiter nördliche Route.
Schon während den beiden Transits der ST. ROCH änderte sich die Arktis, sie wurde – wie auch der Rest der Welt – Zeugin des Krieges. Deutsche Wetterstationen zwischen Ostgrönland und Norwegen arbeiteten an Berichten für die Kriegsmarine und Luftwaffe, U-Boot fuhren bis zu den Eiskanten um Versorgungsschiffen auf den Nordrouten abzupassen.
Der Hohe Norden und der Krieg
Und auch mit Kriegsende kam keine Ruhe in die Arktis. Die Neuzeit kam in die Arktis – und mit ihr der Kalte Krieg. Kanadisch-Amerikanische Truppen zogen militärische Tests in „Operation Muskox“ in der Arktis durch, Langstreckenbomber zogen ihre Flugbahn über dem Eis und Interkontinentale Raketen machten aus dem Hohen Norden eine strategisch wichtige Grenze. 1955 begann die USA mit dem Ausbau einer Serie von Radarstationen, dem „Distant Early Warning System“ (DEW Linie) und mit ihnen kam Personal, Basislager und Flugbahnen.
Das nächste Schiff, das die Nordwest Passage segeln sollte, war ein Kriegsschiff der Royal Canadian Navy, die HMCS LABRADOR, die 1954 vom Lancaster Sound Richtung West bis in die Bering Strasse fuhr. Der nächste Schritt der Militärs waren die U-Boote: 1960 unternahm das Atom-U- Boot SEADRAGON die erste Untersee-Nordwest Passage, um während der selben Passage auch unter der Eiskappe bis zum Nordpol vorzustoßen.
Dieses Vorstoßen galt nun als Beweis, dass die natürlichen Barrieren der nördlichen Grenzen leicht überwindbar geworden sind und die Arktis stets verteidigt werden muss, weshalb amerikanische und russische atomare U-Boote und Eisbrecher (und vielleicht auch die U-Boot anderer Nationen) bis heute die Arktis patrouillieren.
Abrüstung und neue Interessen
Glücklicherweise hat sich nach Ende des Kalten Krieges die militärische Rüstung der Arktis etwas entschärft, nicht zuletzt mit dem Abbau der DEW Linie. Heute gelten die Interessen an der Arktis hauptsächlich kommerziellen und nichtmilitärischen Überlegungen. So transportieren die russischen Eisbrecher nun Touristen durch die Nordwest Passage. Und mit der neuen Ära kamen neue Bedrohungen für die Arktis: große Vorkommen an Öl und Bodenschätze wurden gefunden und nochviel größere Vorkommen werden vermutet und gesucht.
Der große Ölfund 1968 in Prudhoe Bay an Alaskas Nordküste war ausschlaggebend für den ersten kommerziellen Transit durch die Nordwest Passage: der 155 000 Tonnen Öltanker SS MANHATTAN wurde als Eisbrecher ausgestattet und unter Begleitung des kanadischen Eisbrechers JOHN A. MACDONALD durch die Passage gesendet. Die Passage verlief nicht so einfach als erhofft und der Plan, zukünftig eine Flotte an Eisbrecher-Tanker durch die Arktis zu senden wurde glücklicherIweise aufgegeben.
Wieder hat sich gezeigt, dass der alte Traum, die Nordwest Passage als Abkürzung zwischen den Nordmeeren kommerziell zu nützen noch nicht Realität ist.
Ein leidendes Volk
Das wiederkehrende Interesse der Wirtschaftsmächte an der Arktis hat allerdings schwere Schäden zurückgelassen: die Inuit, das Urvolk, dessen Heimat die Arktis ist, wurden für immer aus ihrem Gleichgewicht mit der Natur gerissen, ihre Traditionen und Weisheiten wurden für immer zerstört.
Schon die Zeiten der Walfänger brachten dem Volk schwere Zeiten: ihre natürlichen Ressourcen wurden gestohlen, ihre Dörfer wurden von westlichen Krankheiten und Epidemien heimgesucht und der Alkohol der Walfänger wurde zur verheerenden Droge für die Inuits. Missionare vielen in der Arktis ein, zerstörten die alten Kulturen und brachten das Christentum und den konsumgesteuerten Lebenswandel und damit neue Probleme für das entwurzelten Urvolk. Doch die Inuit überlebten und begannen irgendwann, sich auch politisch in Kanada zu stärken: 1999 gelang es den Volk, einen Teil an Selbstbestimmtheit zurückzuerlangen – die Provinz Nunavut entstand.
Abenteuer Nordwestpassage
Seit den Tagen der MANHATTEN haben duzende Schiffe den Weg durch die Nordwest Passage gemeistert: Schiffe, wie sie nicht unterschiedlicher sein könnten: von modernen Hochseekajaks bis zu Yachten, von Eisbrechern der Kanadischen Küstenwache bis Kreuzfahrt-Schiffen, von motorisierten aber dennoch traditionellen Uminaks (Hautboote) bis zu Motorjachten. Nicht nur das neue Informationszeitalter haben diese Transits ermöglicht, vor allem haben die laufenden klimatischen Veränderungen dazu beigetragen, dass immer mehr Yachten und Schiffe den Weg durch die Nordwest Passage versuchen können: die Arktis schmilzt ab.
Ausbeute, Umweltsünden und Wirtschaftswünsche
2007 berichteten Forscher von einem Rückgang der nordpolaren Eiskappe um eine Million Quadratmeilen: damit war sie nur noch halb so groß wie fünfzig Jahre davor. Und die Temperaturen in der Arktis steigen immer noch. Prognosen lassen auf eine eisfreie Nordwest Passage in absehbarer Zukunft schließen und Forscher sprechen davon, dass vielleicht schon in einem Jahrzehnt ein ganzjähriger Verkehr durch die Arktis und entlang der Nordwest Passage möglich werden wird.
Eine Prognose, die wiederum für den Welthandel und kommerziellen Interessen spannend klingt. Eine Nordwest Passagen Route zum Beispiel von Rotterdam nach Yokohama würde mit 6 500 Seemeilen nur die knappe Hälfte der heutigen 11 200 Seemeilen langen Route durch den Suez Kanal sein. Expertenmeinungen sprechen von allgemeinen Transportkosten-Einsparungen von bis zu 20 Prozent, sollte eine eisfreie Nordwest Passage die Zukunft sein. Dazu kommen die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Ausbeutung: Ölvorkommen und Edelmetalle können freigelegt werden.
Eine Erwärmung, die für das fragile Ökosystem der Arktis zur Katastrophe werden können: Ausbeute und Transit würden neue Umweltkatastrophen bringen, die Erwärmung lässt den Permafrostboden abtauen und das Land versinkt im Sumpf, die arktische Tundra und mit ihr Lebensräume und Rückzugsgebiete der Tierwelt könnte sich für immer verändern. Und wirtschaftliche Interessen könnten wieder zu militärischen Konflikten führen. So wurde im Zuge von territorialen Ansprüchen von einem russischen U-Boot 2001 eine russische Flagge am Meeresgrund des Nordpols gesetzt.
Kanada reagierte auf diese symbolische Machtpräsentation mit der Aufrüstung von bewaffneten Eisbrechern entlang der Nordwest Passage.
Kalte Schönheit im Dornröschenschlaf
Doch noch ist der Hohe Norden ein Ort des Packeises und der Einsamkeit. Noch hält das Eis die Nordwest Passage für den größten Teil des Jahres in ihrem eisigen Griff. Noch herrscht der Eisbär, der König der Raubtiere, über die Tierwelt der Arktis und noch gehört der Transit durch die Nordwest Passage zu einem der größten und gefährlichsten Abenteuern, die ein kleines Schiff wagen kann.