Sturmsegeln Spezial – Teil 16: Die Notbremse – der Seeanker

Das Ablaufen vor dem Sturm gilt als eine der beliebtesten Taktiken, mit dem kleinen Segelboot einen Sturm auf See zu überstehen. Und um mit oder ohne Segel auch halbwegs sicher ablaufen zu können, haben wir dir in den letzten Berichten die verschiedenen Treibanker als Sturmausrüstung näher gebracht. Besonders interessante Berichte und mehr zum Thema Treibanker findest du übrigens auch in der Drag Device Data Base

Die gesammelten Berichte des Drag Device Data Base gibt’s übrigens auch als eBook und pdf zum Download (in Englisch).

Jedoch benötigt es mehr als nur Sturmsegel und Schwerwetterausrüstung, um auch wirklich im Sturm ablaufen zu können. Es benötigt eine Sturmsee, die nicht aus einer extremen Kreuzsee besteht. Und vor allem benötigt es Seeraum. Viel Seeraum. 

Denn zumindest solange du dich auf der Äquatorialseite eines Sturmtiefs befindest, wirst du beim Ablaufen mit der Zugrichtung des Orkans mitziehen und so deine Sturmzeit durchaus verlängern. Schlechtestenfalls wirst du trotz Treibanker ordentlich Seemeilen zurücklegen und eine weit entferne Küste kann plötzlich gefährlich nahe vorm Bug liegen.

Und vergiss nicht, neben brechender Sturmsee an deiner Breitseite ist Legerwall das Gefährlichste, was dir in einem Sturm zustoßen kann.

Was also, wenn du in einen Orkan kommst, der dich in einigen hundert Seemeilen oder weniger gegen eine Leeküste treiben wird? Und wenn der Orkan jedoch so furios ist, dass du keine Möglichkeit mehr siehst, aktiv gegen den Sturmwind zu segeln, um dich und deine Crew freizuhalten? 

Dann kannst du nur eines versuchen: deine Yacht zu stoppen.

Dies funktioniert in der Regel durch Beidrehen und beigedreht liegen. Allerdings lässt sich nicht jede Yacht ohne weiteres beidrehen. Und nicht jede Yacht liegt beigedreht auch sicher. Und im schlimmsten Fall ist der Orkan bereits derartig schwer, dass du es nicht mehr wagst, gereffte Segel zu setzten. Ohne Segel allerdings kein Beidrehen.

Beidrehen
Muss die Geschwindigkeit gedrosselt werden, kann eine Yacht im Sturm beigedreht werden.

 

Auch muss dir klar sein, dass Beidrehen falsche Sicherheit ist, wenn zu bereits nahe an einer Leeküste bist. Denn beigedreht liegen heißt nicht, dass die Yacht wirklich gestoppt ist, sondern viel mehr, dass die Yacht treibt. Und mitunter nicht einmal so langsam: Zum Beispiel treibt unserer La Belle Epoque im stürmischen Wind mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 1,5 bis 2 Knoten in Windrichtung. 

Auch die hocherfahrenen Extremsegler Heide und Erich Wilts erzählen in ihrem Buch „Im Sturm“ Band 2 von einer solchen Erfahrung: 1982 erlebten sie fünf Stürme in Folge an der chilenischen Westküste, wobei der letzte Sturm sie gefährlich nahe demunzugänglichen Land brachte:

„Nur mit Trysegel liegen wir beigedreht. Der Wind treibt uns mit etwa zwei Knoten nach Lee, und der Strom mit einem weiteren Knoten in die gleiche Richtung. Die Rechnung ist einfach: Nach zwölf Stunden werden wir unweigerlich an der Felsenküste stranden.“Heide und Erich Wilts, Im Sturm - Segeln im Extremwetter Band 2

Für den Extremfall gibt es eine Sturmausrüstung, die nun deine letzte Chance bedeuten kann: 

Der Seeanker, auch Fallschirmanker oder Para-Anker

Ein Seeanker ist ein großer Bremsfallschirm, ähnlich eines Bremsfallschirms von Kampfflugzeugen. Er wird – wie ein Anker – über den Bug und natürlich Unterwasser ausgebracht.

Seeanker
Der über Bug ausgebrachte Seeanker ist ein Fallschirm, der sich unter der Wasseroberfläche öffnet, die Yacht stoppt und den Bug in den Wind hält.

Im Unterschied zu einem (über das Heck ausgebrachten) Treibanker soll ein (über den Bug ausgebrachter) Seeanker die Hochseeyacht nicht nur bremsen, sondern stoppen. Er kommt dann zum Einsatz, wenn das Beidrehen oder Ablaufen der Yacht und ihrer Crew nicht mehr möglich ist. 

Der Einsatz von Bremsfallschirmen kommt ursprünglich nicht aus dem Segelsport, sondern aus der Berufsfischerei. Für Fischkutter ist es besonders wichtig, der Sturmsee stets ihren stärksten Teil – den Bug – entgegenzustemmen. Und genau dabei hilft ein unter Wasser ausgebrachter Fallschirm, der groß genug ist, um der Windtrift des Schiffes gegenzuhalten.

Von der Berufsfischerei übernommen, experimentierten in Folge immer mehr Langstreckensegler mit der Möglichkeit, einen Fallschirm als Anker einzusetzen. Mit dem Ergebnis, dass ein richtig dimensionierter Fallschirm den Bug der Yacht in den Wind dreht und die Yacht stoppt. Ein Treiben der Yacht wird dabei beinahe verhindert, ausgenommen natürlich, die Yacht befindet sich im Strömungsgewässer.

Diverse Firmen haben sich mittlerweile auf die Entwicklung und Fertigung von Seeankern spezialisiert. So zum Beispiel dieser Stormfighter aus Neuseeland.

Mit der steigenden Beliebtheit von Katamaranen bei Langstreckensegler und den ständigen Entwicklungen von Monorümpfen zu immer breiteren und formstabileren Konstruktionen hat der Seeanker neue Wichtigkeit erhalten. Da diese Konstruktionen in der Regel nicht problemlos Beiliegen können und sich nach einer Kenterung nicht mehr zwingend aufrichten. 

Trotz allem wird der Einsatz von Fallschrim-Seeanker ziemlich heiß diskutiert. Und das zu Recht. 

Der Einsatz eines Fallschirmankers ist nicht gerade problemlos.

Einige Berichte vom Einsatz eines Seeankers im Orkan verraten immerhin Horrorstorys:

Es gibt Berichte, 

  • wie sich Crewmitglieder verletzten beim erfolglosen Versuch, einen Fallschirm zu bändigen, der sich bereits über der Wasserfläche öffnete.
  • über wiederholtes Querkommen gefolgt von hartem Einrucken der Yacht, da der Fallschirm immer wieder an die Wasseroberfläche auftauchte und dabei seine Zugkraft vorübergehend einbußte.
  • die Yacht am Seeanker von einem Bug auf den anderen durchgeht und dabei immer wieder hart einruckt. 
  • über Yachten, die Ruderbruch erlitten, da die Yacht hinter einem zu klein dimensionierten Seeanker rückwärts Wellen abrutschte.
  • über Schäden am Bug, da nicht einmal der Ankerbeschlag die Kraft des Paraankers aushalten konnte.
  • und darüber, dass nach kurzem Einsatz der Fallschirmanker mit allem drum und dran verloren ging, nachdem die Verbindungsleine in kürzester Zeit durchgescheuert war.
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Aber aus diesen Berichten lassen sich wichtige Lektionen lernen, die dazu führen, dass der Seeanker hoffentlich reibungslos funktioniert, wenn du ihn jemals brauchen solltest.

Ablaufen vor dem Sturm ist nur möglich, solange freier Seeraum voraus liegt.

Die Dimension eines Fallschirmankers

Laut amerikanischen Herstellern sollte der Durchmesser eines Fallschirmes mindestens 35% der LÜA einer Yacht betragen, englische Tests lassen auf etwas größere Durchmesser schließen. 

Auch wissen wir mittlerweile, dass Yachten mit langem Kiel und schwerer Verdrängung größere Para-Seeanker benötigen als leichtere Yachten mit kürzeren Kielen.

Nicht nur die Größe des Fallschirms ist wichtig. Die Verbindungstrossen sowie die Anschlagpunkte des Ankers auf Deck sind entscheidend. Alle Schäkel und Kauschen müssen passend proportioniert und in höchster Qualität sein. Vergiss auch nicht darauf, alle Schäkel gewissenhaft zu sichern. 

Der Seeanker ist nicht einfach nur ein Fallschirm, sondern ein System aus hochwertigen Einzelteilen.

Die Verbindungsleine muss relativ elastisch sein und darf nicht zu Kinken neigen. Sie muss die Bruchlast der Ankertrosse deines Hauptankers entsprechen und sollte – je nach Herstellerangaben – zwischen zehnfacher Bootslänge bis zur zwanzigfachen erwartenden Wellenhöhe sein. Einig sind sich die Hersteller von Para-Anker in der Angabe, dass die Verbindungsleine mindestens 100 Meter lang sein sollte. Es gilt: je länger, desto besser.

Die Anschlagspunkte des Fallschirmankers am Bug

Der Seeanker übt beachtliche Belastung auf die Befestigungspunkte an Bord aus. Berechnungen lassen vermuten, dass der Anschlagpunkt auf der Yacht mindestens 80% des Schiffsgewichts aufnehmen können muss. 

Die Verbindungstrosse darf an keinem Punkt schamfilen. Was am Bug, wo eben auch mindestens der Hauptanker der Yacht verzurrt ist, durchaus eine Herausforderung ist.

Führst du die Verbindungstrosse über den Ankerbeschlag, stell sicher, dass sie nicht aus der Klüse springen und Schaden am Bug oder Vortag verursachen kann. Wir haben eigene Rüsteisen am Bug verschweißt, an dem der Seeanker bereits vorm Auslaufen zu schwierigen Ozeanpassagen angeschlagen wird.

Rüsteisen für Sturmanker an Bord von LA BELLE EPOQUE. Der Fallschirmanker wird in diesem Fall mit einem Hahnepot gefahren. Da wir an beiden Seiten des Bugs identische Rüsteisen verschweißt haben, werden diese auch regelmäßig als Anschlagpunte der Kettenentlastung der beiden Buganker eingesetzt.

Das Ausbringen des Seeankers

Eines der größten Probleme, das Yachtcrews beim Einsatz eines schlecht vorbereiteten Fallschirmankers erleben, ist das erfolgreiche Ausbringen des Fallschirms. Wenn es soweit ist, dass du den Seeanker ausbringen willst, befindest du dich in der Regel bereits im schweren Sturmwind. Deshalb muss der Fallschirmanker in einer Aufbewahrungstasche verpackt sein, die sicher erst unter Wasser öffnet. 

Doch selbst mit passender Aufbewahrungstasche ist das Ausbringen des Fallschirmseeankers mehr als problematisch. Und das wird spätestens klar, wenn du beim Segelschlag hoch am Wind bei aufgewühlter See auf deinem Bug gearbeitet hast. 

Stell dir vor, du befindest dich in meterhoher Sturmsee, du hast das Boot beigedreht, um den Sturmanker auszubringen und musst dafür nun aufs Vordeck. Das ist nicht nur ansträngend, sondern schlichtweg gefährlich.

Deshalb kann unserer Meinung nach ein Seeanker nur dann sicher ausgebracht werden, wenn du ihn bereits vor Anzug des Sturms am Bug anschlägst und außerhalb deines Seezaunes ins Cockpit leitest. Die Verbindungsleine kannst du mittels Kabelbinder an deine Reling fixieren. 

Seeanker in einer Aufbewahrungstasche am Heck
Der Seeanker in der passenden Aufbewahrungstasche im Cockpit. Die Verbindungsleine ist bereits fertig am Bug angeschlagen, außerhalb der Yacht bis ins Cockpit zurückgeleitet und mit Kabelbinder außen an der Reling gesichert.

Den Seeanker so vorbereitet, musst du fürs Ausbringen nicht mehr an den Bug gehen. Nun musst du nur noch deine Yacht so beidrehen, dass sich der vorbereitete Seeanker an der Leeseite deiner Yacht befindet. Dann bringst du den Seeanker übers Cockpit aus. Die Kabelbinder entlang der Reling werden sofort den Druck des Seeankers nachgeben und die Yacht treibt beigedreht vom ausgebrachten Seeanker davon, bis die gesamte Verbindungsleine spannt und die Yacht herumreißt. Nun kannst du deine gerefften Segel bergen, dein Ruder fixieren, das Boot dichtmachen und nach unten gehen. 

Das Auftauchen des Seeankers vermeiden

Taucht dein Seeanker aus einer Welle auf, oder verdreht er sich in der Welle, sodass er vorübergehend in sich zusammensackt, befindet sich deine Yacht in mehrfacher Gefahr. Denn in diesem Augenblick kann die Yacht von einer Welle rückwärts katapultiert werden und dabei ihr Ruder verlieren. Oder sie kann querschlagen und dadurch kentern.

Um dies zu Vermeiden, muss die Verbindungstrosse zum Seeanker und dieser selbst beschwert sein. Gleichzeitig muss eine mindestens 15 Meter lange Sicherungsleine mit einem Fender dafür sorgen, dass der Fallschirm nicht komplett absinken kann, da er sonst nach dem Einsatz beim Einholen in der Restsee das Boot in ernsthafte Schwierigkeiten bringen kann. 

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Auch muss zwischen Seeanker und Verbindungstrosse ein starker, hochqualitativer Wirbel eingearbeitet sein. Um sicherzustellen, dass sich der Fallschirm nicht selbst verknotet, sollte er sich unter Wasser drehen. 

Eine Alternative zum Seeanker direkt am Bug: Beidrehen mit Seeanker – die Pardey-Methode

Die langjährigen, nordamerikanischen Fahrtensegler Lin und Larry Pardey haben die interessante Möglichkeit, den Fallschirmanker als „Beidrehhilfe“ zu verwenden, publik gemacht.

Dabei wird der Paraanker nicht nur am Bug fixiert, sondern mithilfe einer zweiten Leine eines Hahnepots auch ins Cockpit gelenkt. So können sie die Yacht nicht nur Bug voran gegen die See legen, sondern im leichten Winkel, ähnlich des beigedreht Liegens. 

Durch diese Variante wird vermieden, dass die Yacht am Seeanker laufend ihren Bug wechselt und hart einrückt. Wenn du also die Erfahrung gemacht hast, dass deine Yacht gerne vor Anker „tanzt“, können wir dir das Buch „Stormtacktik Handbook“ von Lin und Larry Pardey wärmstens empfehlen.

Manövrierunfähig vor Seeanker

Abschließen sei dir noch darüber bewusst, dass du nun zwar deine Yacht gestoppt hast, aber sie ist dadurch auch manövrierunfähig geworden. Auch wenn du vorerst nicht mehr im Cockpit und am Ruder gebraucht wirst und dich mehr oder weniger entspannen kannst, vergiss nicht, ordentlich Wahrschau zu halten. Auch empfehlen wir dir, in kurzen Abständen immer wieder per Seefunk Sekurite zu funken und die Schifffahrt über deine Position und Lage aufmerksam zu machen.

Du willst wissen, wie es weitergeht? Sei dabei wenn wir uns in zwei Wochen endgültig auf den Orkan vorbereiten!

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Du planst eine Reise mit deiner Segelyacht? Einen Ozean zu überqueren und fremde Küsten anzulaufen? Dann ist mehr nötig, als nur zu hoffen, in keinen Sturm zu geraten. Der erfahrenen Hochseesegler Jürgen & Claudia Kirchberger helfen dir, dich auf die Hochsee vorzubereiten.
Wie bereitest du dich und deine Crew vor? Welche Ausrüstung sollte mit an Bord sein? Welche Möglichkeiten hast du, sicher durch einen Sturm zu kommen? Und natürlich: Wie kannst du vermeiden, in Schlechtwetter zu geraten?


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In den bisherigen Teilen unseres Sturmsegeln-Spezial haben wir viele Aspekte der Wetterkunde, der längerfristigen Vorbereitung und der Ausrüstung besprochen. 

Was aber, wenn ihr draußen seid und klar wird, dass ein Sturm euren Kurs kreuzen wird und ihr nun unausweichlich vor einem schweren Segelschlag steht. 

In den kommenden Berichten werden wir uns und die Yacht bei Aufziehen des Sturms vorbereiten. Und schließlich werden wir die vielbeschworenen Sturmtaktiken erklären und beleuchten. 

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Quer eingestiegen und nicht alle bisherigen Berichte gefunden? Hier gehts zu den einzelnen Berichten unseres „Sturmsegeln-Spezials“:

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